Anspruch auf Beratungshilfe im Widerspruchsverfahren gegen das Jobcenter
Sachverhalt
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Versagung von Beratungshilfe für einen Widerspruch gegen die Kürzung von Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II).
Die Rechtssuchende bezieht Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II (Hartz 4).
Sie erhielt von dem zuständigen Jobcenter im Oktober 2007 einen Änderungsbescheid, in dem die Regelleistung in Höhe von 121,45 € monatlich gekürzt wurde, aufgrund eines angeblichen Haushaltsersparnisses wegen eines Krankenhausaufenthaltes.
Die Rechtssuchende beantragte beim zuständigen Amtsgericht erfolglos Beratungshilfe.
Die zuständige Rechtspflegerin wies den Antrag unter Hinweis auf eine bereits gewährte Beratungshilfe zu einem anderen Bescheid zurück.
Mit der Erinnerung trug der Rechtsanwalt der Rechtssuchenden vor, dass der Beratungsbedarf nicht die gewährte Beratungshilfe wegen einer verhängten Sanktion, sondern die Anrechnung der angeblichen Ersparnis betreffe.
Die Jobcenterpraxis einer solchen Kürzung sei bereits in anderen gerichtlicher Verfahren als nicht rechtens beurteilt worden.
Die Erinnerung wurde durch das Amtsgericht Zwickau zurückgewiesen.
Das Gericht begründete seine Entscheidung damit, dass es dahin stehen könne, ob hier verschiedene Angelegenheiten vorlägen.
Jedenfalls sei es der Rechtssuchenden zumutbar im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 2 BerHG, selbst kostenlos Widerspruch einzulegen. Es sei amtsbekannt, dass es dort zu einer kompetenten und objektiven Bearbeitung der Widersprüche und gegebenenfalls zu einer kostenlosen Beratung komme, auch wenn diese mit der Ausgangsbehörde identisch sei. Ein vernünftiger bemittelter Rechtsuchender hätte in dieser Situation keine anwaltliche Hilfe in Anspruch genommen, sondern selbst bei der Behörde vorgesprochen. Es sei auch zu bedenken, dass der Bescheid von Amts wegen einer Prüfung unterzogen werde, ohne dass es rechtlicher Ausführungen bedürfe.
Entscheidung
Das Bundesverfassungsgericht hat den Beschluss des Amtsgerichts Zwickau auf die Verfassungsbeschwerde der Rechtssuchenden hin aufgehoben und zur erneuten Entscheidung zurückverwiesen.
Entscheidungsgründe
Die Entscheidung verletzt die Rechtsuchende in ihrem Anspruch auf Rechtswahrnehmungsgleichheit gemäß Art. 3 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG und Art. 20 Abs. 3 GG, wonach eine weitgehende Angleichung der Situation von Bemittelten und Unbemittelten auch im außergerichtlichen Rechtsschutz geboten ist.
Vergleichsmaßstab muss das Handeln eines Bemittelten sein, der bei der Inanspruchnahme von Rechtsrat auch die Kosten vernünftig abwägt.
Ein vernünftiger Rechtsuchender darf sich unabhängigvon Begründungspflichten aktiv am Verfahren beteiligen.
Für die Frage, ob der Bemittelte Rechtssuchende einen Rechtsanwalt hinzuziehen würde, kommt es insbesondere darauf an, inwieweit er auf fremde Hilfe zur effektiven Ausübung seiner Rechte angewiesen ist.
Im vorliegenden Fall benötigte die Rechtssuchende fremde Hilfe wegen eines rechtlichen Problems, da es zum Zeitpunkt der Antragstellung noch keine höchstrichterliche Rechtsprechung zu diesem Rechtsproblem gab.
Entgegen dem Beschluss des Amtsgerichts Zwickau kann es der Rechtssuchenden nicht zugemutet werden, Rat bei derselben Behörde in Anspruch zu nehmen, deren Entscheidung sie mit dem Widerspruch angreifen will.
Auch bei einer organisatorisch getrennten und mit anderem Personal ausgestatteten Widerspruchsstelle oder Rechtsbehelfsstelle des Jobcenters entscheidet trotzdem dieselbe Ausgangs- und Widerspruchsbehörde über die Leistungen der Rechtssuchenden.
Es besteht die abstrakte Gefahr von Interessenkonflikten, die die beratungsbedürftige Rechtssuchende selbst nicht durchschauen kann.
Vor allem im Hinblick auf die prozessrechtlichen Grundsätze der Waffengleichheit und der gleichmäßigen Verteilung des Risikos am Verfahrensausgang im sich möglicherweise anschließenden Gerichtsverfahren darf der Rechtssuchenden eine unabhängige Beratung nicht vorenthalten werden.
Auch wenn man im Einzelfall nicht feststellen kann, ob die Beteiligung eines Rechtsanwaltes sich als objektiver Mehrwert gegenüber einer behördlichen Beratung darstellt, so ist diese Beteiligung eines Rechtsanwalts zumindest eine potenziell geeignete Maßnahme zur Effektivitätssteigerung des Verfahrens.
Diesem Gesichtspunkt kommt wegen des existenzsichernden Charakters der erstrebten Sozialleistung besondere Bedeutung zu.
Im konkreten Fall geht es um die Beratung wegen einer geminderten Leistung nach dem Zweiten Sozialgesetzbuches (Hartz 4).
Die Leistungen nach dem Zweiten Sozialgesetzbuch (Arbeitslosengeld II) dienen der Sicherstellung eines menschenwürdigen Lebens.
Diese Sicherstellung ist eine verfassungsrechtliche Pflicht des Staates, die aus dem Gebot zum Schutze der Menschenwürde in Verbindung mit dem Sozialstaatsgebot folgt (vgl. BVerfGE 82, 60 <80>).
Deshalb ist auf eine möglichst effektive Gestaltung des Widerspruchsverfahrens zu achten.
Auch wegen der grundrechtsrelevanten Bedeutung des Verfahrens ist es nicht zumutbar, der Rechtssuchenden die Mittel zu versagen, die einem vernünftigen Rechtsuchenden zur effektiven Rechtswahrnehmung zur Verfügung stünden.
Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 11.05.2009
1 BvR 1517/08
Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts:
http://www.bverfg.de/entscheidungen/rk20090511_1bvr151708.html